Mittwoch, 25. Oktober 2017

aufmupf | edgy werbung als altersfrage.

Ich bin 47 Jahre alt. Daran ist nichts zu rütteln. Macht ja auch nichts. Niemand fühlt sich bemüßigt, mir über die Straße zu helfen. Ich muss nachts nicht jede Stunde aufs Örtchen. Alles funktioniert, der Verfall ist körperlich und optisch gnädig, lediglich mein Gehirn funktioniert besser als vor 20 Jahren. Es ist schneller, weitreichender – und nicht mehr so naiv. 

Immerhin naiv genug, um mich bei einer regionalen Agentur als freie, edgy Texterin und Lektorin zu bewerben. Vorweg: Ich habe die regelmäßige Zusammenarbeit nicht bekommen. Ich landete in der Datenbank, falls die Hütte mal wieder brennt. Begründung: Ich passe nicht in die Altersstruktur der Agentur.

Foto: pixabay
Werbeagenturen – ab 35 ist der Lack ab. 

In den meisten deutschen Agenturen arbeitet niemand, der älter als 40 ist. Vielleicht noch die Chefin, der Chef oder der geschäftsführende Mensch, der muss schließlich Wissen, Erfahrung und Kompetenz ausstrahlen. Für die Kunden. Die sollen zahlen und denken, ich bin in guten Händen. 

Aber die Angestellten sind meist sehr viel jünger. Menschen zwischen 20 und 35 geben sich der Illusion hin, Werbung sei eine krasse, coole Sache. Gut, sie schieben unbezahlte Überstunden und Wochenendarbeit, lassen sich schlecht bezahlen und ausnutzen, aber he, Werbung! Wow! Whoop, whoop! 

Werbeagenturen sind jung und werfen mit Titeln um sich. Titelwahnsinn nennt sich das, und wer mit 35 noch keine leitende Position mit verheißungsvollem Titel erreicht hat, wird mitleidig angelächelt und mitgeschleppt, der alte Sack. Dazwischen lockt vielleicht ein vernünftiges Einkommen, aber wenn die 35 naht oder überschritten ist, also mit 40, spätestens 45 sind Frau und Mann zu alt für die Werbebranche. Dann sind sie weg. Gehen oder werden gegangen. Passiert, wird uns eingeredet oder reden sich die heimischen Konsumanheizer selbst ein. Wer damit angefangen hat, weiß ich nicht. Jung, hip, edgy– so sind wir, so sind Werber. Yeah! 

Alter als Zustand. 

Warum, frage ich Sie und mich. Ist ein handelsüblicher Mensch ab einem gewissen Alter untauglich und hat keine Ideen mehr? Geht im Laufe der Jahre die Fähigkeit verloren, die jemand benötigt, um edgy Texte zu verfassen? Ist die Festplatte leer und der Speicher über Nacht gelöscht? Ist mein Sprachzentrum kaputt oder meine Finger arthritisch? Und was ist dann mit 60, 70 oder noch später? Horrorszenarien! 

In den Stellenanzeigen und Ausschreibungen werde ich mit „Du“ angesprochen, denke mir nichts dabei, finde das völlig normal, vergesse aber, dass mein Agenturgegenüber wahrscheinlich 31 und gerade Senior geworden ist. Für die bin ich mit 47 möglicherweise uralt und habe keine Ahnung, was in der Welt so los ist. Pustekuchen! Lebe ich in Isolationshaft? Vegetiere ich erbarmungswürdig vor mich hin? Oder fehlt ihnen schlicht Kompetenz, um mit erfahrenen Mitarbeitern, die sich wenig vormachen lassen, sich dafür auskennen, umzugehen? 

Belege, Statistiken und Antworten für dieses Ab-45-Diskriminieren existieren nicht, aber jeder weiß und erlebt es – und kennt die Vorurteile: Man munkelt über veraltete Kenntnisse und überholte Sprache. Stimmt, wahrscheinlich kenne ich den Duden noch in Papierform und auf Facebook organisiere ich sentimentale 80er-Jahre-Partys oder Klassentreffen. Zu teuer sind sie auch, weil sich Menschen über 40 nicht mehr mit ein paar Euro abspeisen lassen. Logisch, dass sie zu kritisch sind und meckern, also furchtbar anstrengend sind, sie schauen sich das Ganze ja schon eine Weile an. Zu unflexibel und zu oft krank sollen sie sein, zu einem Bewerbungsgespräch kommt es daher oft schon nicht. Und falls doch ein Job dabei rauskommt, folgen die Abstriche: Schlechtere Bezahlung, lange Anfahrt und viele Überstunden. 

Überall Vorurteile. 

Wie kommt man auf die Idee, ein Mensch wäre mit 25 per se hip, wisse mehr und schmeiße mit originellen Ideen nur so um sich? Weil sie sich mutig trauen auch unkonventionelle Ideen zu äußern? Also bitte, das ist keine Altersfrage, im Gegenteil, ich bin viel entspannter und stehe nicht unter Leistungsdruck – das macht mutig! Ich bin mir sehr sicher, dass mein Wortschatz sehr viel größer ist, ich aus dem Stegreif 10 Ideen für Headlines habe, ein fundiertes Konzept, einen Textentwurf, der es in sich hat, sehr viel besser und schneller hinkriege. Und passend zur Zielgruppe arbeite ich auch noch und kann das Ganze erklären, begründen und variieren. 

Warum?
  • Weil ich mir keine Sorgen mache, ob und wann ich die nächste Stufe der Karriereleiter erklimme.
  • Welche Klamotten ich tragen muss, damit ich gesehen werde, geht mir am Allerwertesten vorbei. Ich habe nämlich Stil, und zwar meinen eigenen.
  • Mir ist es auch ziemlich egal, wenn nur 3 meiner 5 Ideen taugen, davon geht meine Welt nicht unter. 
  • Und weil ich einen Horizont habe, der sich gewaschen hat, kann ich mir eine Haltung erlauben und vielfältige Varianten denken. 
  • Ich will auch kein GF werden, bin ich schon, danke. 
  • Und ich weiß auch, eine Werbetexterin kann mehr verdienen als ein Geschäftsführer oder Art Director in irgendeiner usseligen Werbeagentur. 
  • Ich mache nicht jeden Mist mit. Weil ich den gegen den Wind rieche und zu oft kommen und gehen gesehen habe. 
  • Außerdem: Ich möchte nicht mehr 25 sein. Auch nicht 30 oder 35. 42 ginge vielleicht noch. Ist ja die Antwort auf alles. 

Das große Gehen beginnt mit 35. 

Ich weiß nicht, wie viele Werbetexter über 35 noch in deutschen Werbeagenturen sitzen und mitmachen dürfen. Und wie vielen gekündigt wird und wurde. Andersrum ist irgendwann eine Grenze erreicht: Fast jeder über 35 merkt, wenn sie oder er ausgenutzt und benutzt wird. Ich kenne unendlich viele Kolleginnen und Kollegen, die sich mit Mitte oder Ende 30 aus dem Zirkus verabschiedet haben und nun als Freelancer unterwegs sind. Ich gehöre auch dazu. 

Foto: pixabay
Ich wollte mir das Büro nicht mehr mit einer desinteressierten 25-Jährigen teilen und mit ihr über Nagellack diskutieren. Mehr war nicht drin. 

Diese pseudo-selbstbewussten und unintellektuellen Wesen, die nicht auf die Idee kommen, wie strukturlos sie handeln, wie ungebildet sie sind, wie unfreundlich sie mit Kunden umgehen, dabei aber eigentlich nur einfallslos wiederkäuen, angepasster als jeder Spießer sind und kundenfeindlich und zielgruppenfern agieren. Aber sie treiben an der Oberfläche und sind damit zufrieden. Ihnen genügt eine hübsch anmutende Oberfläche, alles andere wird kaum wahrgenommen und der illusorische Schein gelebt. 

Ich wollte und will gute Werbung machen. Neue Ideen ausprobieren, mit Worten spielen, Kunden abholen, überraschen, entdecken, Geschichten erzählen und nicht machen, was alle machen. Und ich hatte auch mit 35 mehr Energie als die jüngere, aber unmotivierte Kollegin – und bin dabei entspannter und vor allem konzentrierter und versierter. Weitreichende Erfahrung klingt nach Klischee, ist es aber nicht einmal: Ich habe so viele Themen recherchiert, über so viele Themen geschrieben, ich finde alle nötigen Infos und bin kritisch genug, um Pros und Contras zu sehen. Ich plapper nicht nach, ich habe Substanz. Lebenslanges Lernen und mich schnell in neue Themen einzuarbeiten, das ist meine gelebte Normalität. Das Internet ist für mich eine riesige Bibliothek, ich bin also seit mehr als 20 Jahren ein Digital Native. 

Edgy by nature. 

Und dann die Sache mit der Eigenschaft des Adjektivs edgy – austauschbar! In den 80ern war es lässig, geil, in den 90ern cool, irgendwann gab es krass, hip und ultimativ, nun ist es edgy. Edgy heißt übersetzt nervös, kribbelig, kantig, hochkarätig, ausgefallen, exzentrisch, bahnbrechend und avantgardistisch. 

Also, wenn jemand edgy von Natur aus ist, dann bin ich es. Meine Roots sind edgy. Das bringt die Herkunft mit sich, das Ruhrgebiet ist sowas von edgy, das kann jeder hören und erleben, der sich zu uns traut. Hier ist nichts für Weicheier, nichts ist seidig glatt und von Natur aus lieblich, idyllisch und schön. Hier hat alles Kanten und Ecken. Der Ton ist rau, die Sprache direkt und verdammt kurz ist der Dreck auch noch. Wir haben nämlich keine Zeit und im Gegensatz zu den Schweizern, die eine halbe Stunde für einen Satz brauchen, kriegen wir die gleiche Aussage in 3 Kurzsätzen hin. Und schnell sprechen wir auch noch. Hömma!

Agentur oder Kunde – woran liegt es? 

Die Werbebranche tut so, als ginge sie das alles nicht viel an. Sie finden kaum Nachwuchs, Texter sterben aus. Will wohl keiner machen, oder geht doch nicht ohne Ausbildung oder Studium, der einfache Weg kann steil sein. Eine handelsübliche Werbeagentur stellt lieber zwei günstige Junior-Texter ein und lässt sie gegeneinander laufen. Oder feilscht mit mir über Centbeträge und Wortpreise. Dabei ist das kein Wettbewerb; oder müsste es nicht sein. Möglich wäre ein Miteinander, von dem beide etwas haben – und besonders der Kunde, der natürlich auch immer jünger wird, aber genau wie die Agentur und die Kunden des Kunden eher Mittel zum Zweck ist. 

Und vielleicht fühlt sich ein Kunde wohler, wenn er meint, die Agenturen, das sind lauter junge Menschen, die am Puls der Zeit hocken und das Ding zum Laufen bringen. Und er weiß es nicht unbedingt besser, und verlässt sich auf Können, Wissen, Erfahrung und Ideen der Agentur. Eine Agentur, in der womöglich nur einer halbwegs weiß, wo der Hase hopst. Der sich der Idee ewiger Jugend hingibt und den Anschluss an Markt und Leben längst verdrängt hat. Indem er oder sie sich mit jungen Leuten umgibt, die dieses Gefühl unterstützen, aber den Kunden im Regen stehenlassen und keinen Plan von der Zielgruppe haben. 

Oder geht Werbung als Geschäftsmodell nur, wenn unterbezahlte Hipster und Freelancer zu Spottstundensätzen zusammen eingepfercht werden? Und sich um Etats prügeln und in Pitches prostituieren? Soll doch Geld bringen, da bleibt halt was auf der Strecke. Zum Beispiel Konzepte, die Quereinsteiger und Anfänger nicht auf die Reihe kriegen. Oder Briefings, die mehr Fragen in sich tragen, als sie zu beantworten meinen. Wobei es oft weder Briefing noch Konzept gibt – das war einmal. Webseiten gibt es als kostenloses Template oder schäbigen Baukasten, Social Media kann sowieso jeder, Fotos werden uns nachgeworfen und Texte, ach ja, schreibt ein Praktikant, Student oder wer auch immer halbwegs die Tastatur bedienen kann. 

Und alle machen mit. Weil sie jung und edgy sind. Obwohl oder gerade weil die Substanz fehlt. Kunden und Agenturen sehen ein schnelllebiges Geschäft und haben Dollarzeichen in den Augen – und machen sich gegenseitig den Markt und die Qualität kaputt. Dafür muss frisches Fleisch ran. Unverbrauchtes, unerfahrenes, das nicht klugscheißt und Geld kostet und nur einen vermeintlichen Vorteil mit sich bringt: Jugend. 

Ab 45 hat Zukunft. In der Werbung. 

Der Jugendwahn muss nicht so bleiben. Wird er auch nicht – und das ist die eigentliche Ironie – dafür sorgt der demographische Wandel. Wir überaltern nämlich nicht nur, wir sind demnächst auch die Masse und damit der beste, wichtigste und häufigste Kunde aller Unternehmen, Dienstleister und Werbeagenturen. Der Markt und die Wirtschaft werden sich um uns prügeln! 

Bis 2030 werden 50 % der deutschen Bevölkerung älter als 48 Jahre sein. Das ist ein Fakt. Das ist das Wir. Und dann möchte ich sehen, was die sogenannten Hipster machen. Machen Kinder unsere Werbung? Schreiben die zielgruppengerechte Texte? Können U30-Texter wirklich Ü30-, Ü40-, Ü50-, Ü60-, Ü70- oder Ü80-Texte schreiben – und wollen wir das haben? Wäre es nicht besser, wenn die Zielgruppe für ihre Zielgruppe schreibt? Ü50-Werbetexter schreiben Texte für Kunden über 50. Wird sowieso so sein.

Zurück zum Jahr 2030: Ich bin dann 60 Jahre alt, meine Lebenserwartung prophezeit mir weitere 20 bis 25 Jahre, meine Rente ist sowieso nicht sicher, ergo: Einfach zurücklehnen, lächeln und das Karma machen lassen. 

Meine Zeit ist noch lange nicht vorbei. Die kommt erst noch! Und Ihre auch! Außer Sie sind jung. Dann wird es eng.